kim hoss

“zeiten ändern sich?”

Zeiten ändern sich. Ein Satz, den man so oft gehört hat, dass man ihn eigentlich gar nicht mehr hören will. Als ich in die Pubertät kam, gab es plötzlich Handys: Eine neue Welt eröffnete sich mir, wenn diese auch nur 160 Zeichen groß war. In diese packte man die abstrusesten Abkürzungen rein, nur um seinem Schwarm mitteilen zu können, wie sehr man sich auf das nächste Treffen freute. Man wartete sehnsüchtig auf eine Antwort und bekam Herzrasen beim Ton der 19 Cent teuren eintreffenden Kurznachricht. „Ich mag dich sehr“ auf seinem Display zu lesen waren Anfang 2000 für mich die vier Worte, die eine Armee Schmetterlinge in meinem Bauch zum Flattern animierten. Heute ist es der Satz: „Ich habe übrigens Tinder gelöscht.“

Meine Oma lernte meinen Opa mit 26 kennen, weil er sie anhupte. Er saß 1952 in einem Transporter und sie wollte vor ihm über die Straße huschen, ihre Erscheinung gefiel ihm und er drückte auf die Hupe. Ein paar Tage später tanzten sie im Tanzcafé eng umschlungen, küssten sich und heirateten ein Jahr später. 56 Jahre waren sie verheiratet als mein Opa starb. Frage ich heute meine Oma mit 93, was ihr größter Wunsch ist, sagt sie, dass sie ihr Leben mit ihrem Mann genau so nochmal leben würde.

Wenn ich die alten Schwarzweißfotos in der Hand halte, auf denen meine Großeltern sich am Tag ihrer Verlobung verliebt in die Augen schauen, bekomme ich einen dicken Kloß im Hals. Ich denke an die 217 Tinderprofile, die ich in der letzten Stunde weggewischt habe und an ein Date, mit welchem ich mich vor unserem Treffen darauf geeinigt habe, dass wir beide nur Sex wollen, er nach 2 Minuten auf meinem Sofa seine Hand auf meinen Oberschenkel platzierte und wir nach 4 Minuten im Bett landeten. Zeiten ändern sich. Das sieht man nicht nur in der Technik, der Mode, in Erziehungsmethoden oder den Sicherheitsbestimmungen am Flughafen; auch im Dating hat sich einiges geändert. Stichwort Schnellebigkeit und Überangebot. Wir leben in einer Welt, in der wir so gut wie nur möglich, so schnell wie möglich Leistung erbringen müssen. Gleichzeitig sollen (vorallem wir Frauen) aber auch – denn „das war ja schon immer so“ – mit 25 einen Mann kennenlernen, ihn heiraten, ein Kind mit ihm bekommen, einen Bausparvertrag machen, ein Haus auf dem Land bauen und hier glücklich bis an unser Lebensende Kartoffeln schälen. Ich bin jetzt fast 33 und habe weder Mann noch Kind. Bin ich deshalb eine Versagerin? Nein. Bin ich ein Flittchen, weil ich bisher mit mehr als 10 Männern geschlafen habe? Nein. Zeiten ändern sich nicht, es sind die Menschen, die sich ändern.

Schauen wir uns doch mal um: Patchwork-Familien, Alleinerziehende, LGBTQ+, gleichgeschlechtliche Ehen, Polyamorie. Wieso wird man da mit 33 gefragt, wieso man noch keine Kinder hat? Manche Menschen haben noch nicht mitbekommen, dass sich was geändert hat.

Zurück zu Tinder und Co. Wieso gibt es all diese Plattformen? Weil man schnell und unkompliziert Menschen treffen kann, die man sonst nicht treffen würde. Weil man schnell und unkompliziert seine Lust befriedigen kann. Weil man schnell und unkompliziert seinen Marktwert testen kann. Schnell und unkompliziert.

Nach einem Jahr online-Dating bin ich tatsächlich nur eines: erschöpft. Es geht mir zu schnell und teilweise auch zu unkompliziert. Ich möchte nicht nach einem „Hallo, wie geht’s dir?“ ein Foto von einem erigierten Glied sehen und die sexuellen Vorlieben von Stefan, 36 aus Stuttgart bis ins Detail kennen. Ich möchte mich mit jemandem über fremde Kulturen, die Gesellschaft, Musik, Hunde, asiatische Reisgerichte austauschen und wissen, was die Person glücklich macht, Spaziergänge durch den Wald, kleine Berührungen, die viel bedeuten. Man muss mit dem ersten Mal Sex mit einer Person nicht warten bis zur Hochzeit, man muss auch nicht warten bis zum vierten Date, aber eines sollte man: respektvoll miteinander umgehen und auf sein Bauchgefühl hören.

Ich vermisse in all diesem modernen Dating-Wahnsinn die Romantik. Und ich weiß, dass es vielen so geht. Ich hoffe, dass die Menschen sich bald wieder ändern und damit die Romantik wieder ein bisschen mehr Platz gewinnt. Wie auf dem Foto meiner Großeltern.

Kim Hoss

Interesse an mehr witzigen Anekdoten von Kim und ihrer Oma Inge, die zum Nachdenken anregen? Das Buch Opa hätte ein Superlike gekriegt!” wurde vor Kurzem veröffentlicht und handelt von Dating, Liebe, Tattoos und Haselnusslikör.